Karl Knopf
Klang und Technik
Teil 7: Vierbeiner gut – Zweibeiner schlecht
Sind geradzahlige Verzerrungen wirklich immer die „guten“ und ungeradzahlige die „bösen“ Verzerrungen?
Die Überspitzung "Vierbeiner gut – Zweibeiner schlecht" aus Orwells „Animal Farm“ beschreibt vor dem Hintergrund der russischen Revolution vortrefflich, wie unsinnig es ist, einen komplexen Sachverhalt in eine idealisierte, dann aber auch stark vereinfachte Form pressen zu wollen. Doch zeigt sie auch, wie unausweichlich vereinfachende Abstraktion notwendig zu unserem Denken gehört, wir dem Gut/Böse-, Schwarz/Weiß- Schema Folge leisten müssen, um den Dingen, mit denen wir uns beschä?igen, eine Struktur geben zu können. So liegt allen Untersuchungen, die wir bisher zum ?ema Verzerrungen anstrengten, eine Auseinandersetzung mit realistischer wie idealistischer Betrachtungsweise zugrunde.
Gute Geradzahlige?
Der ideale Verstärker produziert keine Verzerrungen. Ein realer Verstärker produziert sie unausweichlich. Diese wiederum lassen sich in geradzahlige, vermeintlich gute, und ungeradzahlige, vermeintlich schlechte Harmonische unterteilen. Eine isolierte Betrachtung der „guten Verzerrungen“ an Verstärkern wie auch an Instrumenten ist nicht möglich, da diese zwingend mit den ungeraden gekoppelt sind. Insofern ist immer eine gewisse Skepsis angebracht, wenn Obertöne isoliert betrachtet und bewertet werden. Auch Helmholtz war bei seinen Betrachtungen zur Klangfarbe recht vorsichtig und beschrieb nur die Ungeraden genau, da sie bei bestimmten Instrumenten sehr deutlich hervortreten, somit gut zu beobachten sind. Die Geraden beschrieb er nie einzeln, enthielt sich jedweder spekulativen Aussage, welche über den Zusammenklang der niederen ganzzahligen Harmonischen mit ihrer Grundwelle hinausginge. Wie kommt es dann zu derlei Aussagen? Nun, man schließt von der Beobachtung, dass Transistorverstärker o? nüchterner als Röhrenverstärker klingen, und den damit verbundenen Klirrspektren, welche bei Transistorgeräten einen meist höheren Anteil ungeradzahliger Harmonischer aufweisen, rückwirkend auf den vermeintlich angenehmeren Charakter der Geraden. Das ist falsch! Die meisten Transistorverstärker sind zum Zwecke der Klirrunterdrückung als Gegentaktverstärker aufgebaut. Hierdurch werden die quadratischen (geradzahligen) Klirrprodukte im Idealfall eliminiert, und der Gesamtklirrfaktor sinkt deutlich. Die übrig gebliebenen Ungeradzahligen, welche als Folge symmetrischer Verformung des Signals entstehen und bei jedem Verstärker spätestens an der Aussteuerungsgrenze unvermeidlich sind, werden als transistortypisch gebrandmarkt, obwohl es eigentlich nicht eine Frage von Röhre oder Transistor, sondern eher von Eintakt oder Gegentakt ist. In Ermangelung eines Beispiels, welches darlegen würde, wie man den Klangcharakter eines rein Geradzahlige produzierenden Verstärkers empfinden würde, kann auch nicht dargestellt werden, ob ein solcher ohne die übliche Einbettung in ein Gesamtklirrspekt - rum überhaupt gut klingen würde, so dass sich das Vorurteil der „guten geradzahligen Harmonischen“ hartnäckig hält. Alle bisherigen Messungen und Klangbewertungen legen nahe, dass es vielmehr auf ein bestimmtes Verhältnis von geraden und ungeradzahligen Harmonischen zueinander und zu der entsprechenden Grundwelle ankommt.
Böse Differenztöne?
Bleibt nun zu untersuchen, inwiefern die gängige Einschätzung der Differenztöne als klanglich „schlecht“ haltbar ist. Leider stehen wir wieder vor dem Problem einer physikalischen Kopplung, welche verhindert, dass wir eindeutige Aussagen über die Einzelphänomene machen können.
Das Diagramm unten links zeigt einen Verstärker mit ausschließlich symmetrischen Verzerrungen, das mittlere Diagramm einen mit beiden Verzerrungsarten. Wie wir sehen, führt die zweite „gute“ Harmonische auch zwangsläufig zu einem „schlechten“ ersten Differenzton D1. Man könnte auch sagen: Je deutlicher die Ausprägung der Harmonischen ist, desto mehr dissonante Differenztöne bilden sich aus. Bei derlei Überschneidungen ist eine Klangbestimmung der einzelnen Klirrartefakte kaum möglich. Auch ist festzustellen, dass Dissonanz überhaupt keine feste Größe ist. Es liegt bereits in ihrer Natur, dass sie sich über die Relation zur Harmonie definiert und ein Zusammenspiel verschiedener Töne ist. Ein einzelner Ton ist weder harmonisch noch dissonant.
Reine Naturtonreihe
Im rechten Diagramm haben wir f1 von 3,18 kHz auf glatte 3 kHz verschoben. Sie sehen, dass sämtliche Differenztöne nun mit den Harmonischen H2, H3 usw. deckungsgleich sind. Die Differenztöne D1 (15 kHz - 3 kHz = 12 kHz und 15 kHz + 3 kHz = 18 kHz) entsprechen der vierten respektive sechsten Harmonischen von 3 kHz. Wir erhalten also eine reine Naturtonreihe. Irrationale Zahlenverhältnisse treten erst dann auf, wenn das dem Verstärker zugeführte Signal auch solche enthält. Das heißt: Jedweder Verstärker ist Mitschwinger, verhält sich genau wie ein akustisches Instrument, unterscheidet sich von diesem nur dadurch, dass man ihm genau diese Eigenschaft abzugewöhnen versucht. Führen wir ihm konsonantes Klangmaterial zu, wird das Wenige, was er hinzutut, auch angenehm sein, führt man ihm dissonantes zu, wird er genau dieses noch ein wenig betonen, indem er brav den physikalischen Schwingungsgesetzen gehorcht. Nicht die unvermeidlichen Differenztöne an sich sind schlecht, sondern das Verhältnis derselben zu den Harmonischen und den dazugehörigen Grundwellen kann unvorteilhaft sein. Es s ind höchs twahr sche inlich die kleinen Differenzen in der Ausprägung der Obertöne, die wie bei den Instrum en ten den Klangcharakt er maß geblich beeinflussen. Das „etwas zu viel oder zu wenig“ von einer bestimmten Oberwelle bewirkt eine Einfärbung, welche mit dem in unserem Gehirn verankerten Katalog natürlicher Klangereignisse unter Umständen nicht übereinstimmt. Der Neutralitätsbegriff muss sich an diesen abgespeicherten Hüllkurven bestimmen lassen, nicht an dem Dogma der völligen Obertonlosigkeit, welches nicht berücksichtigt, dass irgendeine Struktur immer vorhanden sein wird, und sei sie auch noch so klein.
Schön oder „richtig“?
Letztlich kann aus dem Energieerhaltungssatz abgeleitet werden, dass es bei jeglicher Korrektur immer nur um ein Verschieben geht. Die Kunst ist es nur, so geschickt zu verschieben, dass der sinnlich erfahrbare Bereich möglichst wenig betroffen ist. Die Schwingungen haben auf dem Weg vom Instrument zum Verstärker bereits Stauchungen und Dehnungen erfahren, welche sich nur zum Teil objektiv überprüfen lassen. Das macht es ungemein schwierig, harte, nicht relative Qualitätskriterien festzulegen. Gleichwohl beobachten wir, dass sich natürlich klingende Verstärkertypen auch an mittelmäßigen Anlagen klanglich, im Sinne eines die Musik nicht determinierenden Tones, durchsetzen können, sich also dem Neutralitätsbegriff gemäß vorteilhaft bemerkbar machen. Es muss also möglich sein, anhand einer Fieberkurve zu belegen, dass der Verstärker nicht kühl, warm, schön, dynamisch, etc., sondern „richtig“ klingt. Hierzu reicht die bisherige Darstellung offenbar nicht aus, da der höchst komplexe Zusammenhang zwischen Anstiegszeit, Phasengang, Klirrspektrum und deren Darstellung bei unterschiedlicher Belastung im Verhältnis zur psychoakustischen Bewertung erfasst werden müsste. Für diese Herkulesaufgabe gönnen wir uns bis zu den folgenden Teilen eine Pause...