Karl Knopf   @   C u l t D

Karl Knopf
Klang und Technik
Teil 5: Das Hör-Puzzle

Was Röhrenverstärker, Telefonstimmen, Erkenntnistheorie und Puzzles gemein haben

Die klassische Erzählung stellt zunächst die beteiligten Personen vor, entwickelt alsdann eine Handlung, deren Spannungsbogen anfangs alles möglich erscheinen lässt, sich später in der Pointe auflöst und so beim Leser das wohlige Gefühl des Jetzt-habe-ich-allesverstanden erzeugt. Fatalerweise verhält es sich jedoch genau in dem Bereich, von dem man es vergleichsweise am ehesten erwarten würde, völlig anders: Die Wissenscha? ist ein offenes Buch, das immer mehr Fragen aufwir? als beantwortet. Wir können uns nur damit bescheiden, viele kleine Geschichten zu erzählen, die hoffentlich irgendwann eine große, in sich schlüssige ergeben, die sich aus dem Zusammenhang der kleineren erschließt.

Das Blätter-Puzzle

Stellen wir uns ein Puzzle vor, dessen Gesamtbild nicht bekannt ist, aus dessen Einzelbausteinen und deren gegenseitiger Zuordnung wir aber nach momentanem Kenntnisstand ableiten können, dass es sich um die Abbildung von Blättern handeln muss, woraus wiederum auf das Gesamtbild eines Baumes geschlossen werden kann, nicht jedoch auf das Umfeld desselben, da es hierfür keinerlei Hinweis gibt. Muster erkennung beruht auf bereits erlernten Zusammenhängen und einer gewissen Hinweisdichte, die es unumgänglich erscheinen lässt, gewisse Schlussfolgerungen zu ziehen.

Geradzahlige angenehm

Das Idealbild des Verstärkers ist das der Eins-zu-eins-Übertragung. Er darf keine Information weglassen oder hinzufügen, sollte also Veränderungen des Ausgangssignals im Vergleich zum Eingangssignal, welche nicht linear sind, unterlassen. Nichtlinearitäten bezeichnet man als Klirr. Der Begriff „Ideal“ beinhaltet, dass dies real nur näherungsweise erreichbar ist. Trotzdem müsste technisch gesehen und unter der Voraussetzung, dass die sonstigen technischen Daten identisch sind, immer der Verstärker der „beste“ sein, der den geringsten Gesamtklirr aufweist.

Dies korreliert nicht immer mit den Hörerfahrungen. Der Begriff Gesamtklirr ist anscheinend zu allgemein. Hermann von Helmholtz’ Abhandlung über die Obertöne und das vergleichsweise ähnliche Spektrum verschiedener Verstärker legt dies nahe, indem aufgedeckt wird, dass es nicht nur auf die Menge ankommt, sondern auch auf die Verteilung im Frequenzband. Ein gleichmäßig abfallendes Klirrspektrum bis zur sechsten Harmonischen, wie es bei vielen Instrumenten vorkommt, scheint psychoakustisch von Vorteil zu sein. Weiterhin hinterlassen die geradzahligen Harmonischen im Vergleich zu den ungeradzahligen den angenehmeren und volleren Klangeindruck.

Es lässt sich nun hinreichend erklären, weshalb Röhrenverstärker, welche vornehmlich geradzahlige Harmonische produzieren, trotz ihres hohen Gesamtklirrs dennoch gut klingen können. Allerdings nicht, weshalb sie je nach Rahmenbedingungen durchaus auch besser klingen können als ein Transistorverstärker mit vergleichbarem Spektrum, aber viel geringerem Gesamtklirr. Und schon gar nicht, weshalb Transistorverstärker, welche auf extrem geringen Gesamtklirr getrimmt wurden, durchaus schlecht klingen können.

Besser oder schlechter?

So wie wir über die eindimensionale Bewertung des Klirrs hinausgingen, ist es offenbar notwendig, Begriffe wie „besserer Klang“ ihrerseits aufzuschlüsseln, um die Beschreibung der klanglichen Phänomene wieder mit den Messungen zur Deckung zu bringen und sich nicht immer weiter in Widersprüche zu verwickeln, die sich aus einer zu allgemeinen Verwendung der Begriffe „besser“ oder „schlechter“ ergeben.

Bereits die erste Differenzierung in „präziser Klang“ und „farbiger, vollmundiger Klang“ macht deutlich, dass wir es mit positiv besetzten Eigenscha?en zu tun haben, die sich aber dennoch widersprechen. Wer den Mund voll nimmt, kann zwangsläufig nicht präzise sein. Wenn wir uns diese Kategorien als zwei sich kreuzende Geraden vorstellen, ergibt sich in der Mitte ein Kreuzpunkt, welcher für die optimale Mischung steht. Am unteren Ende der Geraden sind die Bereiche „sehr vollmundig“ und „verwaschen“, im oberen Bereich „sehr genau“ und „farblos“ zu finden. Auf die Verstärkertechnik bezogen müssen wir nun die y-Achse noch mit nach oben steigender Gegenkopplung und nach unten steigendem Klirr belegen, und es ergibt sich eine gewisse Logik, da nun bildlich darstellbar ist, dass geringster Klirr nicht nur höchste, ja durchaus begrüßenswerte Präzision bedeutet, sondern gleichzeitig auch maximale Blässe. Wäre es dann nicht wünschenswert, das Optimum auf der Klangachse nach rechts zu verschieben? Interessanterweise nicht, oder schauen Sie gerne bei voll aufgedrehtem Farbkontrast fern? Akzente sind notwendig, um das Wesentliche zu erkennen, im Übermaß und an der falschen Stelle verdecken sie es allerdings auch wieder. Unanfechtbar bleibt lediglich das Kriterium der Genauigkeit.

Hilfreiche Obertöne

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© Zeitschrift STEREO, Reiner H. Nitschke VerlagsGmbH



Zunächst ist der Begriff Genauigkeit ein Neutrum, wenn ich nicht erkläre, worauf er sich bezieht und wodurch er bedingt ist. In unserem Fall haben wir es beim Röhrenverstärker mit einer physikalischen Ungenauigkeit zu tun, dem Klirr. Wenn wir aber genauer hinschauen, passt der maßgebliche Teil dieses Klirrs recht präzise zu unseren Hörgewohnheiten. Gebe ich ihm einen kleinen Lautsprecher zum Partner, der seinerseits im Mittelhochton genau ist, also die harmonischen Teiltöne des Musiksignals und die des Verstärkers, welche sich hilfreich hinzuaddieren, sehr gut überträgt, wirken diese als Verständnismatrix und erleichtern es unserer Wahrnehmung, die Ungenauigkeit des Lautsprechers, welche vornehmlich im Bass und Grundtonbereich gegeben ist, als unwesentlich zu betrachten (siehe Kasten). Dies und die psychoakustische Wirkung der Obertöne auf die Klangfarbe sind die Gründe, weshalb Kombinationen wie die beschriebene durchaus farbig, kraftvoll und raumfüllend wirken können, obwohl die physische Größe des Lautsprechers dies nicht vermuten ließe.

Ist das noch genau?

Genau das ist nun von Vorteil, was üblicherweise von Nachteil ist, denn prinzipiell sind wir uns einig, dass Verzerrungen nicht wünschenswert sind. Aber wir haben verstanden, dass bestimmte Verzerrungen nur schwer herauszuhören sind und unter bestimmten Bedingungen sogar als natürlicher „Eyeliner“ für das Koordinatensystem dienen können, um die real fehlenden Teile des Klangpuzzles zu ergänzen. Ob dies bereits auch eine abschließende Erklärung dafür ist, dass sehr verzerrungsarme Transistorgeräte kühl klingen können, erfahren Sie im nächsten Teil.

 

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